Ulrike Möntmanns Projekt
»parrhesia: Die riskante Handlung des Wahrsprechens« wendet sich erneut einer Randgruppe zu und sucht in künstlerisch-wissenschaftlicher
Forschung und Praxis nach Wegen aus einer systematisch auferlegten Ohnmacht.
Im Zentrum des Forschungsprojekts stehen
die Lebensbedingungen inhaftierter drogenabhängiger Frauen vor und nach dem Beginn ihrer Suchterkrankung. Dass sie »als gesellschaftlich
vernachlässigbares Phänomen« betrachtet werden und sich zudem selbst als prinzipiell schuldig und zu Recht inhaftiert erfahren,
schmälert ihr Leiden an einem zumeist von (sexueller) Gewalt geprägten Leben auf der Straße bzw. im Gefängnis keineswegs –
im Gegenteil: Aufgrund dieser strukturellen Verdammung zur buchstäblichen Sprach- und damit auch Wehrlosigkeit stellt sich
die Frage, ob das öffentliche Äußern der individuellen Lebensgeschichte als emanzipatorische Handlung wirksam werden kann.
Im interdisziplinären Zusammenschluss von Kunst und Wissenschaft analysiert Möntmanns genderspezifische Studie ein gesamtgesellschaftliches
Phänomen aus verschiedenen Perspektiven. Um Handlungsräume und Wissenszirkulation ihrer
»Outcast
Registration« zu erweitern, werden die bisherigen Untersuchungsergebnisse aus Mitteleuropa in mehreren Gefängnissen auf
der Nord-Süd-Achse Europas ergänzt und vertieft.
Theoretischer Schlüsselbegriff der Studie ist Foucaults Konzeption
der parrhesia, die den Mut ebenso wie die Pflicht beschreibt, die unmaskierte Wahrheit zu sagen, sich aus scheinbar ohnmächtiger
Perspektive aufrichtig und freimütig gegen mächtige Individuen und herrschende Ordnungen zu positionieren mit dem Risiko,
dafür sanktioniert zu werden. Parrhesia offenbart bestehende Hierarchien, hier also ausgehend von den massiv an den äußersten
sozialen Rand gedrängten drogenkranken Frauen. Die Ausgangsfrage widerspricht dem gängigen Klischee, dass Junkies nichts Wesentliches
zu sagen hätten. Im Gefängnis, dem isoliertesten Raum der Gesellschaft, erkennen die Teilnehmerinnen Kunst als potentiellen
Handlungsraum. In ihren Biografien werden wiederkehrende Muster und kontingente Strukturen sichtbar, insbesondere die Unverhältnismäßigkeit
in den Konsequenzen der von und an ihnen begangenen Straftaten.
Die Kunst wird somit zur sozialpolitischen
Vermittlungsinstanz und durch den Einsatz ästhetischer Medien zum Instrument öffentlicher Sichtbarkeit. Künstlerischer Zugriff
und empirische Forschung erweisen sich dabei als interdisziplinär anwendbare und komplementär wirksame Untersuchungsmethoden.
Im Rahmen neu geknüpfter Kooperationen mit Forschungsinstituten in den Ländern zukünftiger Projektausführungen entsteht ein
großräumiges Netzwerk, dessen Expertise die künstlerisch-wissenschaftliche Forschung zu sozialpolitischen Interventionsmöglichkeiten
langfristig befördern und bereichern wird.